Nak zur Regelbedarfsermittlung: Gesetzentwurf im parlamentarischen Verfahren nachbessern!

Berlin 7.Oktober 2020: Heute findet im Bundestag die erste Beratung des Entwurfs des Regelbedarfsermittlungsgesetz statt. Darin wird die Höhe der Regelbedarfe ab 2021 festgesetzt. Die Nationale Armutskonferenz kommt nach Prüfung des Gesetzentwurfs zu dem Ergebnis: Der Regelbedarf ist an vielen Stellen zu knapp bemessen. Dies legt die nak beispielhaft in ihrem heute veröffentlichten Positionspapier dar. Bündnissprecher Gerwin Stöcken fordert daher deutliche Verbesserungen des Gesetzentwurfs im parlamentarischen Verfahren. Insbesondere sollten die Parlamentarier*innen die nachträglichen Streichungen revidieren.

Gerwin Stöcken, Sprecher der nak: „Die im Gesetzentwurf vorgelegte Berechnung der Regelbedarfe geht vielfach an der Lebensrealität der Menschen vorbei. Viele methodische Setzungen, angefangen bei der Definition der Referenzgruppen über den Einbezug verdeckter Armut in die Statistik bis zur Behandlung bestimmter Ausgaben wie langlebige Gebrauchsgüter, Gesundheitskosten, der Bereich der digitalen Ausstattung oder Strom, überzeugen nicht. Besonders ins Gewicht fallen erneut die umfangreichen nachträglichen Kürzungen, die sich Berechnungen zufolge auf über 150 Euro summieren. Die genannten Kritikpunkte zeigen: Die Bundesregierung gibt sich große Mühe, um den Regelbedarf möglichst knapp zu bemessen, ohne sich ernsthaft mit vorliegenden Verbesserungsvorschlägen des Verfahrens aus der Wissenschaft und Zivilgesellschaft zu befassen. Wir setzen darauf, dass jetzt im parlamentarischen Verfahren nachgebessert wird.“

Anlässlich der Regelbedarfsermittlung hat die Nationale Armutskonferenz heute ein Positionspapier veröffentlicht, in dem dargelegt wird, was eine mangelhafte Ausgestaltung des Existenzminimums für die Menschen im Grundsicherungsbezug finanziell bedeuten kann. Seien es Zuzahlungen für die Gesundheit, der Umgang mit dem Kind in einer Trennungsfamilie, die Pflege sozialer und familiärer Beziehungen, die digitale Ausstattung von Kindern, die kaputte Waschmaschine oder die Stromkosten – anhand dieser Beispiele weist das Positionspapier auf die Lücken in der gegenwärtigen Ausgestaltung des Existenzminimums hin.

Zum Hintergrund:
Der Gesetzgeber ist zur Neuberechnung der Regelbedarfe verpflichtet, wenn die Ergebnisse der zu Grunde liegenden Statistik, der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) vorliegen. Mit dem aktuellen Regelbedarfsermittlungsgesetz wird dies für die Regelbedarfe ab 2021 umgesetzt. Die Regelsätze sollen gemeinsam mit den Kosten für Unterkunft und Heizung sowie den Mehrbedarfen den existenziellen Bedarf für Leistungsberechtigte des SGB II, des SGB XII und des Asylbewerberleistungsgesetz abbilden. Die Berechnung der Regelsätze in der Grundsicherung steht seit Jahren in der Kritik. Der vorliegende Gesetzentwurf führt dieses kritikwürdige Verfahren weitgehend fort.

Spaltungen verhindern, Zusammenhalt stärken – kein „Weiter-So“ bei den Regelsätzen!

Anlässlich der anstehenden Neuberechnung der Hartz-IV Regelsätze fordert die Nationale Armutskonferenz gemeinsam mit vielen anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Regelsätze dieses Mal bedarfsdeckend auszugestalten. Hier ist der gemeinsame Brief, der diese Woche an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und ab Mitglieder des Bundestages verschickt wurde. Für die nak ist klar: Es darf kein „Weiter so“ bei den Regelsätzen geben.

Berlin, 11. März 2020
Im Jahr 2020 steht eine grundlegende Neu-Bemessung der Regelsätze in der Grundsicherung auf der Tagesordnung. Dazu ist der Gesetzgeber verpflichtet, wenn die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 vorliegen.

Die Unterzeichnenden appellieren an die politisch Verantwortlichen, bei der Neu-Bemessung der Regelsätze nicht das äußerst kritikwürdige Verfahren aus den Jahren 2011 und 2016 zu wiederholen.

Dieses Verfahren zur Ermittlung der Regelsätze führte zu einer Abwärtsspirale und hat erhebliche Defizite. Fünf Beispiele:

  • Die Regelsätze von Erwachsenen werden aus den Konsumausgaben der unteren 15 Prozent der Ein-Personen-Haushalte mit den geringsten Einkommen hergeleitet bzw. die Regelsätze der Kinder aus den Konsumausgaben der unteren 20 Prozent der Paar-Haushalte mit einem
    Kind. Dabei wird das Wenige, das einkommensschwache Haushalte aufgrund begrenzter Mittel ausgeben können, unreflektiert mit dem Existenzminimum gleichgesetzt, das sichergestellt werden soll. Gleichzeitig werden die Bedarfe, die Eltern tätigen, um ihre Kinder am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, nicht berücksichtigt.
  • Das Ziel, armen Kindern echte Teilhabechancen zu gewähren, verträgt sich nicht mit der Versorgung auf einem minimalistischen Niveau.
  • Zwar werden Grundsicherungs-Beziehende vorab aus der Vergleichsgruppe herausgenommen, nicht jedoch Haushalte, die ihren Anspruch gar nicht geltend machen und deren Einkommen unter dem Hartz-IV-Niveau liegt. Dies senkt die statistisch messbaren Konsumausgaben und drückt die Regelsätze nach unten.
  • Eine Vielzahl von Ausgaben, die die einkommensschwachen Haushalte in der Vergleichsgruppe tatsächlich tätigt, wird bei der Herleitung der Regelsätze als „nicht relevant“ herausgestrichen. Dazu gehören Malstifte für Schulkinder, der Weihnachtsbaum, Familienfeste wie Konfirmation, Kommunion oder Jugendweihe, Zimmerpflanzen, Haustiere, Handykosten, Taschen, Regenschirme, Adventsschmuck, Versicherungen, Babysitter bei Schichtdienst, rezeptfreie Medikamente und Gastgeschenke bei Geburtstagsfeiern.
  • Mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe können besondere Ausgaben nicht hinreichend dargestellt werden. Hierzu fehlen in vielen Fällen Sondererhebungen oder ergänzende Bedarfsermittlungen, insbesondere bei den Stromkosten und bei familienbezogenen Ausgaben

Die Unterzeichnenden fordern, die Regelsätze gründlich, realistisch, transparent und sachgerecht herzuleiten und auf unschlüssige Streichungen bei den ermittelten Ausgaben zu verzichten. Folgende Anforderungen sollten beachtet werden:

1. Die Regelsätze sind eine einheitliche Pauschale für alle. Eine Pauschale kann aber sinnvollerweise nur solche Bedarfe des täglichen Lebens abdecken, die bei allen Haushalten regelmäßig und in vergleichbarer Höhe anfallen. Ausgaben für langlebige Gebrauchsgüter wie etwa für ein Kinderfahrrad oder eine Waschmaschine, die nur in großen zeitlichen Abständen notwendig sind und daher nur bei sehr wenigen Haushalten im gleichen Zeitraum anfallen, lassen sich über die EVS nicht sachgerecht abbilden, da die EVS für einzelne Positionen die durchschnittlichen Ausgaben aller Haushalte ausweist. Gleiches gilt für besondere personenbezogene Bedarfe bei Krankheit oder im Alter, die bisher nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Für langlebige Gebrauchsgüter sollten daher auf Antrag separate Einmalleistungen als Zuschuss gewährt werden, bei Krankheit und im Alter angemessene Zuschläge entsprechend
der besonderen Bedarfe.

2. Ausgangspunkt der Regelsätze sollten zunächst die Ausgaben von Haushalten in der Mitte der Gesellschaft sein. Anschließend ist, differenziert nach unterschiedlich relevanten Ausgabenbereichen,
politisch zu entscheiden, welche Abstände zu den Ausgaben mittlerer Einkommen in der Grundsicherung vertretbar sind und welche Prozentanteile von den Ausgaben der Mitte für die Festsetzung der Regelsätze maßgebend sein sollen. Auf jeden Fall muss sichergestellt
sein, dass die Ausgaben der festgelegten Referenzgruppe nicht lediglich die bestehende Armut der Gruppe zum Ausdruck bringt.

Statt sich an den Ärmsten der Armen zu orientieren, müssen politisch Mindeststandards für eine ausreichende materielle Ausstattung und für soziale Teilhabe festgelegt werden.

3. Nicht alle Ausgabenpositionen lassen sich über die EVS sinnvoll ermitteln. Um angemessene Stromkosten feststellen zu können, reicht nicht die Bezugnahme auf die ärmsten Haushalte. Gerade in prekären Formen der Unterbringung oder bei Untermiete wurde der Stromkostenanteil mit der EVS gar nicht ermittelt, so dass die Sätze unrealistisch niedrig sind. Sinnvoller ist eine Ermittlung von notwendigen Stromkosten entsprechend der typischen Lebenssituation nach Haushaltsgröße, wie sie der Deutsche Verein, der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft sowie die Nationale Armutskonferenz vorschlagen. Ebenso sind wirksame Wege der Schuldenregulierung nötig. Hierzu liegen detaillierte Konzepte vor.

Die Stromkosten sollten nicht mehr aus der EVS, sondern bedarfsorientiert ermittelt, aus dem Regelsatz herausgelöst und separat gewährt werden.

4. Die Dynamisierung der Regelsätze sollte so ausgestaltet sein, dass die Diskrepanz zwischen den materiellen Mitteln der Haushalte im Grundsicherungsbezug und den materiellen Möglichkeiten „der Mitte“ nicht permanent größer wird. Der bisher geltende Mischindex stellt dies
nicht sicher. Da in den vergangenen Jahren die Löhne stärker gestiegen sind als die Preise, vergrößerten sich die Abstände zuletzt.

Die Regelsätze sollten jährlich entsprechend der Lohnentwicklung fortgeschrieben werden. Liegt die Preisentwicklung über der Lohnentwicklung, erfolgt die Anpassung anhand der
Preisentwicklung.

5. Die Höhe der Regelätze ist prägend für die Lebenssituation von Millionen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Bei der Neufestsetzung geht es um die Frage, welcher Geldbetrag mindestens notwendig ist, um in der reichen Bundesrepublik menschenwürdig leben und teilhaben zu können. Die Relevanz der Entscheidung erfordert eine breite gesellschaftliche
Beteiligung und Debatte. Eine Herleitung der Regelsätze alleine durch das Bundesarbeitsministerium und ein anschließender Bundestagsbeschluss ohne weitere Prüfung sind nicht angemessen.

Es sollte eine Sachverständigenkommission eingesetzt werden, bestehend aus Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie Gewerkschaften und Betroffenenorganisationen, die konkrete Vorschläge für die Ermittlung des Existenzminimums erarbeitet. Der Bundestag sollte nicht nur über „Zahlen“ debattieren, sondern darüber, waseine Grundsicherung qualitativ leisten soll.

Unser gemeinsames Ziel ist eine Existenzsicherung, die die bestmögliche Förderung der Leistungsberechtigten im Blick hat.

Gerne steht die nak unter nak@awo.org für einen weiteren Austausch zur Verfügung.

Hier geht es zum vollständigen Brief des Bündnisses für ein menschenwürdiges Existenzminimum (PDF-Datei).

 

BVerfG: Grundgesetz schützt Hilfsbedürftige und baut Brücken in die Erwerbsarbeit

Berlin, 05. November 2019. Anlässlich der heutigen Urteilsverkündung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Zulässigkeit der Sanktionen im SGB II erklärt der Sprecher der Nationalen Armutskonferenz (nak) Gerwin Stöcken: „Nach fast 15 Jahren Sanktionspraxis im SGB II begrüßen wir, dass das BVerfG das Sanktionsregime endlich verfassungsgerichtlich beurteilt und die Kürzungen über 30 % für verfassungswidrig erklärt hat. Wir fordern aus Respekt vor dem Gericht und den Menschen die Jobcenter auf, dies in der Anwendung konsequent umzusetzen “, betont der Sprecher der nak.

Nicht verfassungsgemäß sind nach dem BVerfG daher alle Kürzungen die mehr als 30 % des Regelsatzes betreffen. Zumutbar ist eine Leistungsminderung in dieser Höhe aber nur, wenn in einem Fall außergewöhnlicher Härte von der Sanktion abgesehen werden kann und die Minderung nicht unabhängig von der Mitwirkung der Betroffenen starr drei Monate andauert.

Das heutige Urteil hat erhebliche Relevanz für die Lebenssituation von fast 6 Mio. Menschen im Hartz IV-Bezug. Wir freuen uns deshalb, dass das BVerfG Farbe bekannt und Flagge gezeigt hat gegen die derzeitige Sanktionspraxis im SGB II. Die bisherige Praxis im SGB II ist nicht geeignet eine dauerhafte Integration in den Arbeitsmarkt zu gewährleisten. Sanktionen führen vielmehr zu Verschuldung, Obdachlosigkeit und einer immer weiterer Entfernung vom Arbeitsmarkt“, bekräftigt Gerwin Stöcken.

„Wir erwarten nunmehr, dass der Gesetzgeber seine Hausaufgaben macht und die Sanktionen im SGB II deutlich beschränkt. Gefordert ist vielmehr ein Kurswechsel im SGB II-Regime. Beschäftigungs- und Sozialpolitik sollte auf Sanktionen und Druck verzichten und die Motivation und Selbstbestimmung der Menschen unterstützen. Nur so kann Arbeit eine positive Rolle im Leben der Betroffenen einnehmen anstatt prekäre Beschäftigung zu befördern.“

Zum Hintergrund:

Nach den Erwägungen des BVerfG steht es dem Grundgesetz nicht entgegen, an der Überwindung der eigenen Hilfsbedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken. Diese Mitwirkungspflicht darf der Gesetzgeber auch durch belastende Sanktionen durchsetzen. Die derzeitige Ausgestaltung schafft allerdings eine außerordentliche Belastung, welche den strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit nicht gerecht wird.

Die Nationale Armutskonferenz ist Mitunterzeichnerin der gemeinsamen Erklärung des Bündnisses für ein menschenwürdiges Existenzminimum. Die gemeinsame Pressmitteilung des Bündnisses finden Sie hier: gemeinsame Erklärung Sanktionen_SGB_II