Nak kritisiert Regelbedarfsermittlungsgesetz: Keine nennenswerten Verbesserungen für die Menschen!

Berlin, 19.08.2020. Heute beschließt das Bundeskabinett das Regelbedarfsermittlungsgesetz . Gerwin Stöcken, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, kommentiert.

„Die Neuberechnung der Regelbedarfe überzeugt uns auch diesmal nicht. Seit Jahren beklagen Leistungsbeziehende, dass die Regelbedarfe zu niedrig ausfallen, um die täglichen Bedarfe sorgenfrei zu decken und ohne Scham und Stigma am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Viele Betroffene haben tagtäglich existentielle Sorgen. Eine kaputte Waschmaschine, eine unvorhergesehene Nachzahlung, eine Sanktion durch das Jobcenter oder einfach nur das kleine Mitbringsel zum Kindergeburtstag des Enkels kann die fragile finanzielle Situation der Menschen aus dem Gleichgewicht bringen. Das kann nicht der Anspruch an einen starken Sozialstaat sein. Dieser sollte das menschenwürdige Existenzminimum aller Menschen verlässlich bereitstellen.

Leider sieht das vorliegende Gesetz keine nennenswerten Verbesserungen für die über sieben Millionen Menschen vor. Stattdessen wurde die lang und breit kritisierte Berechnungspraxis weitestgehend fortgeführt und die Regelbedarfe wieder äußerst knapp berechnet. Unter anderem wird wieder der Rotstift angesetzt und Verbrauchsausgaben in Höhe von mehr als 150 Euro aus der Statistik gestrichen. Wir warnen seit Jahren vor einer Verfestigung der Armut. Die Politik darf nicht weiter hinnehmen, dass Menschen weiter abgehängt werden und die Armutslücke größer wird. Der Regelsatz sollte daher deutlich steigen! Die Nationale Armutskonferenz fordert jetzt mutige Verbesserungen im parlamentarischen Verfahren.“

Zum Hintergrund: 

Der Gesetzgeber ist zur Neuberechnung der Regelbedarfe verpflichtet, wenn die Ergebnisse der zu Grunde liegenden Statistik, der Einkommens- und Verbraucherstichprobe (EVS) vorliegen. Mit dem heute verabschiedeten Regelbedarfsermittlungsgesetz wird dies für die Regelbedarfe ab 2021 umgesetzt. Die Regelsätze sollen gemeinsam mit den Kosten für Unterkunft und Heizung sowie den Mehrbedarfen, den existenziellen Bedarf für Leistungsberechtigte des SGB II, des SGB XII und des Asylbewerberleistungsgesetz abbilden. Die Berechnung der Regelsätze in der Grundsicherung steht seit Jahren in der Kritik. Die  Verfahrenspraxis führt zu einer Regelsatzhöhe, die das menschenwürdige Existenzminimum nach Auffassung vieler Expert*innen faktisch unterdeckt.

Nak fordert: Arme Familien und Kinder bei den Corona-Maßnahmen nicht vergessen!

Berlin, den 23.04.2020. In einem politischen Appell fordert die Nationale Armutskonferenz gemeinsam mit mehreren Wohlfahrts-, Kinderrechts- und Familienverbänden, die materielle Absicherung armer Kinder und Familien in der Corona-Krise zu gewährleisten und die Notbetreuung auszuweiten. Gerwin Stöcken, Sprecher der Nationalen Armutskonferenz, erklärt:

„Mit dem gemeinsamen Appell machen wir deutlich: Die Corona-Pandemie setzt die Familien unter Druck. Trotz vieler wichtiger Maßnahmen der Bundesregierung und der Länder, um die wirtschaftliche Existenz von Millionen Menschen zu sichern, wurden die Bedarfe armutsbetroffener Menschen und Familien in dieser Situation noch nicht angemessen berücksichtigt. Im Gegenteil: Die Corona-Pandemie verschärft die Not vieler Menschen. Für Familien in der Grundsicherung und für ihre Kinder fehlen jedoch angemessene Maßnahmen.“

Im gemeinsamen Appell wird ausgeführt, dass mit der Schließung der Bildungs- und vieler sozialer Einrichtungen wichtige Versorgungsinfrastrukturen für Kinder mit einem Schlag wegfallen, etwa das kostenlose Mittagessen oder auch die Lebensmittelversorgung vieler Tafeln, die normalerweise rund eine halbe Millionen Kinder und Jugendliche in Deutschland versorgen. Auch in anderen Bereichen, wie Bildung, soziale Teilhabe oder Gesundheit, verschärfen sich eine schon bestehende Unterversorgung und Benachteiligungen vieler Kinder weiter. Zudem können in dieser Situation viele Familien und insbesondere Alleinerziehende nicht oder nur unter beschwerten Bedingungen ihrem Beruf nachgehen. Das gefährdet unmittelbar ihre Existenz. Gerwin Stöcken weiter:

„Wir fordern daher eine unbürokratische Erhöhung des Hartz-IV-Regelsatzes, um den Wegfall wichtiger Sozialleistungen zu kompensieren und um die coronabedingten Mehrbedarfe aufzufangen. Die Zugangskriterien für die Notbetreuung muss zudem ausgeweitet werden, um die Familien schnell zu entlasten. Viele Mitgliedsorganisationen in unserem Bündnis haben bereits tragfähige und konkrete Konzepte zu diesen und weiteren Fragen der Grundsicherung vorgelegt.“

Zur gemeinsamen Erklärung der Wohlfahrts-, Kinderrechts- und Familienverbände (PDF)

Spaltungen verhindern, Zusammenhalt stärken – kein „Weiter-So“ bei den Regelsätzen!

Anlässlich der anstehenden Neuberechnung der Hartz-IV Regelsätze fordert die Nationale Armutskonferenz gemeinsam mit vielen anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen, die Regelsätze dieses Mal bedarfsdeckend auszugestalten. Hier ist der gemeinsame Brief, der diese Woche an das Bundesministerium für Arbeit und Soziales und ab Mitglieder des Bundestages verschickt wurde. Für die nak ist klar: Es darf kein „Weiter so“ bei den Regelsätzen geben.

Berlin, 11. März 2020
Im Jahr 2020 steht eine grundlegende Neu-Bemessung der Regelsätze in der Grundsicherung auf der Tagesordnung. Dazu ist der Gesetzgeber verpflichtet, wenn die Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2018 vorliegen.

Die Unterzeichnenden appellieren an die politisch Verantwortlichen, bei der Neu-Bemessung der Regelsätze nicht das äußerst kritikwürdige Verfahren aus den Jahren 2011 und 2016 zu wiederholen.

Dieses Verfahren zur Ermittlung der Regelsätze führte zu einer Abwärtsspirale und hat erhebliche Defizite. Fünf Beispiele:

  • Die Regelsätze von Erwachsenen werden aus den Konsumausgaben der unteren 15 Prozent der Ein-Personen-Haushalte mit den geringsten Einkommen hergeleitet bzw. die Regelsätze der Kinder aus den Konsumausgaben der unteren 20 Prozent der Paar-Haushalte mit einem
    Kind. Dabei wird das Wenige, das einkommensschwache Haushalte aufgrund begrenzter Mittel ausgeben können, unreflektiert mit dem Existenzminimum gleichgesetzt, das sichergestellt werden soll. Gleichzeitig werden die Bedarfe, die Eltern tätigen, um ihre Kinder am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen, nicht berücksichtigt.
  • Das Ziel, armen Kindern echte Teilhabechancen zu gewähren, verträgt sich nicht mit der Versorgung auf einem minimalistischen Niveau.
  • Zwar werden Grundsicherungs-Beziehende vorab aus der Vergleichsgruppe herausgenommen, nicht jedoch Haushalte, die ihren Anspruch gar nicht geltend machen und deren Einkommen unter dem Hartz-IV-Niveau liegt. Dies senkt die statistisch messbaren Konsumausgaben und drückt die Regelsätze nach unten.
  • Eine Vielzahl von Ausgaben, die die einkommensschwachen Haushalte in der Vergleichsgruppe tatsächlich tätigt, wird bei der Herleitung der Regelsätze als „nicht relevant“ herausgestrichen. Dazu gehören Malstifte für Schulkinder, der Weihnachtsbaum, Familienfeste wie Konfirmation, Kommunion oder Jugendweihe, Zimmerpflanzen, Haustiere, Handykosten, Taschen, Regenschirme, Adventsschmuck, Versicherungen, Babysitter bei Schichtdienst, rezeptfreie Medikamente und Gastgeschenke bei Geburtstagsfeiern.
  • Mit der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe können besondere Ausgaben nicht hinreichend dargestellt werden. Hierzu fehlen in vielen Fällen Sondererhebungen oder ergänzende Bedarfsermittlungen, insbesondere bei den Stromkosten und bei familienbezogenen Ausgaben

Die Unterzeichnenden fordern, die Regelsätze gründlich, realistisch, transparent und sachgerecht herzuleiten und auf unschlüssige Streichungen bei den ermittelten Ausgaben zu verzichten. Folgende Anforderungen sollten beachtet werden:

1. Die Regelsätze sind eine einheitliche Pauschale für alle. Eine Pauschale kann aber sinnvollerweise nur solche Bedarfe des täglichen Lebens abdecken, die bei allen Haushalten regelmäßig und in vergleichbarer Höhe anfallen. Ausgaben für langlebige Gebrauchsgüter wie etwa für ein Kinderfahrrad oder eine Waschmaschine, die nur in großen zeitlichen Abständen notwendig sind und daher nur bei sehr wenigen Haushalten im gleichen Zeitraum anfallen, lassen sich über die EVS nicht sachgerecht abbilden, da die EVS für einzelne Positionen die durchschnittlichen Ausgaben aller Haushalte ausweist. Gleiches gilt für besondere personenbezogene Bedarfe bei Krankheit oder im Alter, die bisher nicht ausreichend berücksichtigt werden.

Für langlebige Gebrauchsgüter sollten daher auf Antrag separate Einmalleistungen als Zuschuss gewährt werden, bei Krankheit und im Alter angemessene Zuschläge entsprechend
der besonderen Bedarfe.

2. Ausgangspunkt der Regelsätze sollten zunächst die Ausgaben von Haushalten in der Mitte der Gesellschaft sein. Anschließend ist, differenziert nach unterschiedlich relevanten Ausgabenbereichen,
politisch zu entscheiden, welche Abstände zu den Ausgaben mittlerer Einkommen in der Grundsicherung vertretbar sind und welche Prozentanteile von den Ausgaben der Mitte für die Festsetzung der Regelsätze maßgebend sein sollen. Auf jeden Fall muss sichergestellt
sein, dass die Ausgaben der festgelegten Referenzgruppe nicht lediglich die bestehende Armut der Gruppe zum Ausdruck bringt.

Statt sich an den Ärmsten der Armen zu orientieren, müssen politisch Mindeststandards für eine ausreichende materielle Ausstattung und für soziale Teilhabe festgelegt werden.

3. Nicht alle Ausgabenpositionen lassen sich über die EVS sinnvoll ermitteln. Um angemessene Stromkosten feststellen zu können, reicht nicht die Bezugnahme auf die ärmsten Haushalte. Gerade in prekären Formen der Unterbringung oder bei Untermiete wurde der Stromkostenanteil mit der EVS gar nicht ermittelt, so dass die Sätze unrealistisch niedrig sind. Sinnvoller ist eine Ermittlung von notwendigen Stromkosten entsprechend der typischen Lebenssituation nach Haushaltsgröße, wie sie der Deutsche Verein, der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft sowie die Nationale Armutskonferenz vorschlagen. Ebenso sind wirksame Wege der Schuldenregulierung nötig. Hierzu liegen detaillierte Konzepte vor.

Die Stromkosten sollten nicht mehr aus der EVS, sondern bedarfsorientiert ermittelt, aus dem Regelsatz herausgelöst und separat gewährt werden.

4. Die Dynamisierung der Regelsätze sollte so ausgestaltet sein, dass die Diskrepanz zwischen den materiellen Mitteln der Haushalte im Grundsicherungsbezug und den materiellen Möglichkeiten „der Mitte“ nicht permanent größer wird. Der bisher geltende Mischindex stellt dies
nicht sicher. Da in den vergangenen Jahren die Löhne stärker gestiegen sind als die Preise, vergrößerten sich die Abstände zuletzt.

Die Regelsätze sollten jährlich entsprechend der Lohnentwicklung fortgeschrieben werden. Liegt die Preisentwicklung über der Lohnentwicklung, erfolgt die Anpassung anhand der
Preisentwicklung.

5. Die Höhe der Regelätze ist prägend für die Lebenssituation von Millionen von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Bei der Neufestsetzung geht es um die Frage, welcher Geldbetrag mindestens notwendig ist, um in der reichen Bundesrepublik menschenwürdig leben und teilhaben zu können. Die Relevanz der Entscheidung erfordert eine breite gesellschaftliche
Beteiligung und Debatte. Eine Herleitung der Regelsätze alleine durch das Bundesarbeitsministerium und ein anschließender Bundestagsbeschluss ohne weitere Prüfung sind nicht angemessen.

Es sollte eine Sachverständigenkommission eingesetzt werden, bestehend aus Wissenschaftler*innen, Vertreter*innen von Sozial- und Wohlfahrtsverbänden sowie Gewerkschaften und Betroffenenorganisationen, die konkrete Vorschläge für die Ermittlung des Existenzminimums erarbeitet. Der Bundestag sollte nicht nur über „Zahlen“ debattieren, sondern darüber, waseine Grundsicherung qualitativ leisten soll.

Unser gemeinsames Ziel ist eine Existenzsicherung, die die bestmögliche Förderung der Leistungsberechtigten im Blick hat.

Gerne steht die nak unter nak@awo.org für einen weiteren Austausch zur Verfügung.

Hier geht es zum vollständigen Brief des Bündnisses für ein menschenwürdiges Existenzminimum (PDF-Datei).