Gesundheitsversorgung – ein Menschenrecht!? Vergessene Gruppen in unserem Gesundheitssystem

Fachtag der nak AG Gesundheit
23. Juni 2023
10 bis 16 Uhr
im Erbacher Hof Mainz

Dokumentation

Zu Beginn begrüßte Moderatorin Michaela Hofmann (Referentin für Allgemeine Sozialberatung und Armutsfragen, Caritas Erzbistum Köln) die 65 Teilnehmenden des Fachtages.

Danach wurde in drei Impulsvorträgen ein Überblick über die aktuelle Lage der Versorgungslücken im deutschen Gesundheitssystem gegeben:

Impulsvortrag I: Einführung in das Thema und die politischen Zusammenhänge

Prof. Dr. Gerhard Trabert (Sozialmediziner und Gründer des Vereins Armut und Gesundheit in Deutschland) nimmt Stellung zur politischen Einordnung der Bekämpfung von Armut, ordnet Aussagen von Politiker:innen ein und kritisiert deutlich, dass das BMG die Einrichtung einer Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit abgelehnt hat

Prof. Dr. Gerhard Traberts Stellungnahme zur Ablehnung des BMG einer Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit

Antwort der Bundesregierung auf Anfrage von Dietmar Bartsch zur Einführung einer Arbeitsgruppe Armut und Gesundheit (S. 114)

https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/144009/Bundesgesundheitsministerium-will-keine-Arbeitsgruppe-fuer-Armut-und-Gesundheit-einrichten

Impulsvortrag II: Lücken im Gesundheitssystem

Dr. Maria Goetzens (FA Gesundheit der BAG W, Ärztin bei der Elisabeth-Straßenambulanz in Frankfurt) erzählt von ihren Erfahrungen in der Straßenambulanz, auf die besondere Lebenslage der Patient:innen und ihre Auswirkungen auf Gesundheit. Außerdem beleuchtet sie die Versorgung psychiatrisch und chronisch Kranker und zeigt Lücken auf.

Präsentation

Impulsvortrag III: Menschen ohne Krankenversicherung

Nele Wilk und Sophie Pauligk von der BACK (Bundesarbeitsgemeinschaft Anonyme Behandlungsscheine und Clearingstellen) gehen auf die Situation von Menschen ohne Krankenversicherung in Deutschland ein.
Sie zeigen aktuelle Versorgungsangebote und erklären kurzfristige Lösungen wie den Anonymen Behandlungsschein und die Funktion von Clearingstellen. Zuletzt erklären sie auch langfristige Lösungen zum Abbau gesetzlicher Hürden.

Rede

Präsentation

 

Arbeitsgruppen:

Nach einer kurzen Fragerunde teilten sich die Teilnehmenden in 4 Arbeitsgruppen auf:
In jeder Arbeitsgruppe wurde eine „vergessene Gruppe“ in unserem Gesundheitssystem beleuchtet: Asylsuchende, EU-Bürger:innen, ehemals Privatversicherte, Papierlose.

In jeder Gruppe gab es eine Einführung durch eine:n Moderator:in der nak AG Gesundheit, danach erzählte ein:e Betroffene:r von den eigenen Erfahrungen bzw. eine Fachperson einer Clearingstelle Krankenversicherung schilderte ein Fallbeispiel, welches dann fachlich eingeordnet wurde. Gemeinsam wurden die strukturellen Probleme der „vergessenen Gruppe“ zusammengefasst und Lösungsvorschläge in Form von politischen Forderungen formuliert.

Problemsituation und Lösungsvorschläge für eine fünfte Gruppe, die der Haftentlassenen, wurden parallel zu den Arbeitsgruppen erarbeitet.

„vergessene Gruppe I“: Asylsuchende

Leitung/Fachperson: Dr. Ifunanya Dimaku & Michelle Kerndl-Özcan, Ärzte der Welt e. V.
Moderation: Prof. Dr. Gerhard Trabert, nak AG Gesundheit

Präsentation

Forderungen und an wen sie gerichtet sind:

  1. Systemimmanente Aufklärung: Information für alle Asylbewerber:innen über die Funktionsweise unseres Sozial-/Gesundheitssystems sowie über die Rechte und Möglichkeiten von Asylbewerber:innen
    → Bundesgesundheitsministerium, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kommunen
  2. Generelle Einführung einer Krankenversicherungskarte
    → Bundesgesundheitsministerium, GKV-Spitzenverband
  3. Abschaffung Asylbewerberleistungsgesetz (spez. §§4+5)
    → Bundestag/Bundesjustizministerium
  4. Bessere Hygiene-/Gesundheitsversorgung in Gemeinschaftsunterkünften
    → Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, kommunale Gesundheitsämter
  5. Keine finanzielle Unterstützungslücke bei Aufenthaltsstatusänderung
    → Bundestag/Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundesagentur für Arbeit, Jobcenter
  6. Keine Unterscheidung unter Geflüchteten (wie es aktuell z. B. zwischen Geflüchteten aus der Ukraine und von anderswo geschieht)
    → Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Bundesgesundheitsministerium
  7. medizinische Ausbildung „sozial-kultur-sensibel“ gestalten
    → Bundesministerium für Bildung und Forschung, Kultusministerkonferenz, Universitäten/Medizinische Fakultäten
  8. medizinische Versorgung und Behandlung: muttersprachlich, gendersensibel
    Bundesregierung, Bundesländer, Sozialämter und Sozialdienste, Gesundheitsämter
„vergessene Gruppe II“: EU-Bürger:innen

Leitung/Fachperson: Maria Schlenkrich, Caritas Köln
Moderation: Michaela Hofmann, nak AG Gesundheit

↗ Präsentation wird nachgereicht

Forderungen und an wen sie gerichtet sind:

  1. Prävention von Wohnungslosigkeit: Wohnraum schaffen
    Bundesregierung, Bundesministerium des Innern
  2. Beratungspflicht und Bereitstellung von Informationen in Muttersprache
    Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundesgesundheitsministerium, Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Kommunen (Gesundheitskioske, Jobcenter), Länder
  3. Anspruch auf Leistungen in der Gesundheitshilfe auch ohne Aufenthaltsberechtigung: Abschaffung des § 23 SGB XII
    Bundestag/Bundesjustizministerium
  4. Erleichterung des Nachweises der Arbeit: Postalische Adresse muss ausreichend sein
    Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundesgesundheitsministerium, Kommunen
  5. Übergangsweise Einführung des Thüringer Modells (Anspruch auf eine bedarfsorientierte ambulante medizinische Versorgung)
    GKV-Spitzenverband, Bundesministerium für Arbeit und Soziales, Bundesgesundheitsministerium
„vergessene Gruppe III“: ehemals Privatversicherte

Leitung/Fachperson: Johannes Lauxen, CSKV RLP
Moderation: Manfred Klasen, nak AG Gesundheit

↗  Filmbeitrag zur Problembeschreibung

Forderungen und an wen sie gerichtet sind:

  1. Eine Versicherung für alle: Abschaffung Trennung GKV/PKV
    Bundesgesundheitsministerium
  2. Direktabrechnung über Karte
    Bundesgesundheitsministerium
  3. Bundesweite Clearingstellen
    Bundesgesundheitsministerium, Länder, Kommunen
  4. Kein verminderter Leistungsumfang im Notfalltarif
    Bundesgesundheitsministerium
  5. Behandlungspflicht im Basistarif
    Bundesgesundheitsministerium
  6. Höhere/bessere Vergütung ärztlicher Leistungen gemäß GÖA im Basistarif
    Bundesgesundheitsministerium
„vergessene Gruppe IV“: Papierlose

Leitung/Fachperson: Janina Gach, Ärzte der Welt e. V.
Moderation: Stefan Bräunling, nak AG Gesundheit

↗  Präsentation

Forderungen und an wen sie gerichtet sind:

  1. Erleichterung des Aufenthaltes
    Bundesministerium des Innern, Bundesministerium für Arbeit und Soziales
  2. Zugang zu Gesundheitsversorgung (inkl. Reha, Pflege, Prävention)
    – Abschaffung der Übermittlungspflicht
    – Reform der Nothelferregelung
    Bundesgesundheitsministerium, Länder, Kommunen
    Bundestag/Bundesjustizministerium
  3. Übernahme von Behandlungskosten – Bundesweite Etablierung von Clearingstellen mit Behandlungsfonds und anonymen Behandlungsscheinen
    Bundesgesundheitsministerium, Länder, Kommunen
„vergessene Gruppe V“: Haftentlassene

Leitung/Fachperson: Janna Dreckkötter, DBSH, & Nele Wilk, CSKV RLP
Moderation: Carmen Mauerer, nak AG Gesundheit

Präsentation

Forderungen und an wen sie gerichtet sind:

  1. Erhaltung der Regelversorgung während der Haft
     Bundestag/Bundesjustizministerium
  2. frühzeitiges Übergangsmanagement zur Haftentlassung
    der Themen Arbeit / ALG II / Bürgergeld
     Landesjustizministerien, Landessozialministerien, Bundesagentur für Arbeit
  3. Haftbescheinigung = Kündigung (zur Vermeidung von Schulden bei freiwillig GKV-Versicherten)
     Bundesgesetzgebung, GKV-Spitzenverband

Kurzvortrag: Wohnungslosigkeit und Krankenkassenschulden

Corinna Lenhart ging auf die Sondersituation wohnungsloser Menschen in Bezug auf Krankheit und Krankenversicherung ein, indem sie ein Positionspapier der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen e. V. vorstellte.

Positionspapier

Podiumsdiskussion

Der Fachtag wurde beendet mit einer spannenden Podiumsdiskussion, die von Michael David (Diakonie, Sozialpolitik) moderiert wurde.

Auf dem Podium:

Hans Sander als Betroffener,
Maria Wirth von der BACK – Bundesarbeitsgemeinschaft Anonyme Behandlungsscheine und Clearingstellen und Mitarbeiterin der Clearingstelle Krankenversicherung in Frankfurt am Main,
Christiane Böhm, Landtagsabgeordnete in Hessen für DIE LINKE.,
Dr. Peter Tinnemann, Leiter des Gesundheitsamtes in Frankfurt am Main,
sowie Dr. Peter Zschunke, Publizist und Journalist.

 

Viele weitere angefragte Vertreter:innen aus dem Gesundheitsministerium, aus Bundestagsfraktionen und anderen politischen Gremien, sowie von den Krankenkassen, hatten leider im Vorfeld abgesagt. Es wurde darüber diskutiert, ob dies mit Desinteresse am Thema zu begründen sei, wie sozialpolitische Themen stärker in den Fokus gerückt und politische Lösungen erreicht werden können.

Reicht es, wenn es bestimmte Positionen in die Koalitionsverträge schaffen? Die Erfahrungen zeigen, dass oft trotzdem nichts passiert.
Die Folgen daraus sind oft Frust und Resignation – „schlechter kanns nicht werden, denkt man manchmal“, kommentierte Prof. Dr. Gerhard Trabert aus dem Publikum.

Dennoch konnten Dr. Peter Zschunke aus seiner langjährigen Erfahrung als Journalist, Christiane Böhm aus ihrer Oppositionsarbeit im hessischen Landtag und verschiedene Leute aus dem Publikum festhalten: Wichtig sei langer Atem, „es muss den Leuten aus den Ohren rauslaufen“ – dann sei auch eine positive Entwicklung zu beobachten. Soziale Missstände werden am ehesten in den Medien aufgegriffen, wenn sie als Ereignis präsentiert werden, auf einem aktuellen Anlass beruhen, oder wenn persönliche Geschichten Empathie wecken und es betroffene Ansprechpersonen gibt.

In der Politik ließe sich etwas erreichen, wenn man beständig und immer wieder Kontakt mit den Abgeordneten aufnehme, öffentlich Druck aufbaue und nicht lockerlasse, auch wenn die Verantwortung immer wieder auf andere Ebenen geschoben wird. Eine weitere Möglichkeit, politische Entscheidungsträger:innen zum Handeln zu bringen, seien Anhörungen. Christiane Böhm schilderte ihre positiven Erfahrungen mit diesem Format.

Dr. Peter Tinnemann betonte, wie wichtig der Diskurs zwischen Zivilgesellschaft und Politik sei. Formate wie der Fachtag förderten diesen.

Renate Antonie Krause vom Groschendreher Kiel aus dem Publikum fügte hinzu, dass es unsere wichtigste Aufgabe sei, Menschen auf die Straße zu bringen, Menschen aufzuklären und zu vernetzen. So können wir unsere Hemmungen zu armutspolitischen Themen überwinden, die Stigmata beenden und Mut finden.

Hans Sander bekräftigte dieses Statement und ergänzte ein Beispiel aus Kaiserslautern, wo das Thema Armut in Verbindung mit kulturellen Veranstaltungen wochenlang Gesprächsthema war.

Diese Formen von öffentlicher Aufmerksamkeit seien für die Betroffenen sehr wichtig, da dadurch auch klar werde, dass Menschen nicht aus eigenem Versagen, sondern aufgrund struktureller Missstände in Armut geraten.

Die Teilnehmenden waren sich einig: Es ist noch viel zu tun. Warme Worte reichen nicht, es müsse auch deutlich mehr Geld in die Hand genommen werden.

Prof. Dr. Trabert schloss mit den motivierenden Worten Kurt Martis: „Wo kämen wir hin, wenn alle sagten, wo kämen wir hin, und keiner ginge, um zu sehen, wohin wir kämen, wenn wir gingen.“

Presseecho:

Artikel des evangelischen Pressediensts über den Fachtag:

↗ https://www.evangelisch.de/inhalte/217782/23-06-2023/wenig-fortschritte-bei-hilfen-fuer-menschen-ohne-krankenversicherung